Besuch von Partner NGOs in Athen

November 2023

Athen  November 2023

Seit Januar arbeiten Ruba und ich nun schon im Rat und Vorstand der Stiftung :do, einer Förderstiftung mit dem Schwerpunkt Flucht und Migration. Wir vergeben Gelder an Organisationen, die sich für Migrant:innen und Geflüchtete einsetzen. Wir möchten mit unserer Förderung den Weg zum Zielland und dort das Ankommen und Bleiben erleichtern. Aber wie sieht dieser Weg zum Zielland eigentlich aus und wie ergeht es den Menschen dabei? Wie können wir als kleinere Stiftung sinnvoll unterstützen? Um das herauszufinden, wollen wir uns auch auf den Weg machen und reisen für 5 Tage nach Athen. Seit Juli ist die Zahl der dort ankommenden Geflüchteten wieder stark angestiegen wissen wir von unserem Förder-Partner Medical Volunteers International (https://medical-volunteers.org/). Viele werden von den überfüllten Inseln aufs Festland gebracht. Auch in Athen sind die Erstaufnahmelager voll, der Bedarf nach medizinischer Versorgung ist groß und das Team hat viel zu tun. Staatliche medizinische Versorgung gibt es nur mit Sozialversicherungsnummer. Trotzdem nehmen sie sich Zeit für uns und stellen Kontakte zu anderen NGOs in Athen her, die wir mit unserer Förderung unterstützen können. Das Netzwerk zwischen den NGOs ist gut – jede unterstützt mit einem anderen Schwerpunkt. Erst vor ein paar Tagen kam ein Anruf bei Ion von der Organisation Lighthouse Relief (https://www.lighthouserelief.org/) an. Es sei wieder eine Gruppe am Victoria Platz – für Menschen mit positivem oder negativem Asylbescheid ist die griechische Regierung nicht mehr zuständig, weder für die Lebensmittelversorgung noch für Unterkunft. Die Menschen sollen weiterziehen, ins Zielland oder zurück ins Herkunftsland – oft unmöglich ohne Geld, mit kleinen Kindern, im Rollstuhl oder krank. In diesem Zustand werden die Menschen auf dem Victoria Platz abgeladen. Ion telefoniert – organisiert Essen beim Saffron Kitchen Project (https://saffronkitchenproject.org/), einer Organisation, die bis zu 500 Mahlzeiten am Tag für Geflüchtete kocht, zubereitet von Geflüchteten, die durch das Projekt einen Arbeitsplatz gefunden haben. Ion fragt auch nach einer möglichen Erstunterbringung in befreundeten Hotels, holt selber Schlafsäcke ab im eigenen Lebensmittel- und Kleidungslager. Dorthin nimmt er uns mit. Von 13 bis 14 Uhr ist Ausgabe der Versorgungstaschen. 250 Menschen sind für einen Zeitraum von 6 Monaten auf seiner Liste und dürfen sich einmal im Monat eine solche Tasche abholen. Danach sind andere dran. Besonders vulnerable Fälle dürfen auf der Liste bleiben. Hinzu kommen weitere Taschen für Notfälle, im letzten Monat hat die Organisation 350 Familien versorgt. Eine solche Tasche holt sich Mara ab. Sie ist über eine Stunde aus dem nördlich von Athen liegenden Erstaufnahme-Lager Ritsona hierhin gefahren, um Essen und Windeln für ihre drei Kinder zu bekommen. Warum nimmt sie das auf sich fragen wir uns? Warum gibt sie mehr für die Fahrt aus, als es der Wert dieser Tasche ist? Für Windeln, Binden, Zucker und Nudeln, zwei Hosen für den Einjährigen, ein Paket Buntstifte. Im Camp bekomme sie das nicht. 

Bevor wir uns am nächsten Tag selber nach Ritsona aufmachen, sind wir zum monatlichen Kochabend für die Frauen im Victoria Community Center eingeladen. Hier bieten unterschiedliche Organisationen unter einem Dach einen Ort für Sprachkurse, Arztkonsultationen, Kinderbetreuung, Näh-Arbeitsplätze, ein Frühstück- oder Abendessen oder einfach nur Sein im Women-Space. Im Innenhof wird heute gekocht, gelacht, getanzt, mit den Kindern gespielt. Die Freiwilligen und Angestellten der Organisation Glocal Roots ( https://glocalroots.org/ )schaffen einen Abend von Freude und Leichtigkeit für die Frauen, die in Camps, beengt in Übergangsunterkünften und manchmal auch auf der Straße leben. Einige der Frauen haben das Glück, in dem Nähstudio der Organisation einen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Hier werden Bauchtaschen genäht, die lokal und über einen Onlineshop verkauft werden.

Wir können nicht bis zum Ende bleiben, wir haben noch eine Verabredung zum HipHop Training. HipHop4Hope (https://www.hiphop4hope.com/greece) möchte minderjährige Alleinreisende über die HipHop Kultur empowern. Bei ihrer Ankunft sind die Jugendlichen durch das Erlebte oft nicht einmal in der Lage zu sprechen. „Wenn du über HipHop an deine Grenzen kommst, etwas schaffst, bei einer Performance auftrittst, glaubst du wieder an dich und bist bereit für den nächsten Schritt“, erklärt uns Christian aus Deutschland, der in Athen das Projekt aufgebaut hat. Wichtig sei auch die Zeit vor und nach dem Training, das Zusammensein an Auftrittstagen. Christian fragt, wie weit sie mit dem Sprachkurs sind, hakt beim Fortschritt des Asylprozesses nach und erinnert die Jungs an vergessene oder nie gelernte Umgangsformen mit Frauen. Von der positiven Art, mit der er das macht, können wir uns beim Training überzeugen. Auch hier ist ein gutes Netzwerk wichtig. Die Kids lernt er über eine NGO kennen, die Unterkünfte für minderjährige Alleinreisende bietet.   

Die Mehrheit der Geflüchteten hat leider nicht das Glück in einer solchen Unterkunft zu sein. Sie leben in den Camps oder Erstaufnahmelagern oder auch CCAC (Closed Controlled Access Center) außerhalb von Athen in denen jeweils 2.000 bis 4.000 Menschen untergebracht werden. Wir fahren zum Camp Ritsona über eine Stunde mit dem öffentlichen Bus. An der Endhaltestelle werden wir vom Team von ROSA (https://www.rolling-safespace.org/) abgeholt, die vor den Camps Rolling Saferspaces, mobile Anlaufstellen für Frauen und Kinder auf der Flucht bieten. Wir fahren nochmal 40 Minuten mit dem Auto und verstehen, warum nur noch wenige Geflüchtete das Stadtbild von Athen prägen. Wir kommen an im Nirgendwo, nur karge Landschaft und Industrie. Dann lange Betonmauern und Stacheldrahtzäune davor. Hier soll wirklich niemand unkontrolliert rein oder raus. Der Truck von ROSA hält auf einem Schotterweg nicht weit vom Eingang des Camps – Zutritt ins Camp hat außer den Geflüchteten niemand. Wir werden schon freudig von einer Gruppe Frauen und Kinder erwartet, die fast unwirklich in dieser Umgebung wirken. Sehr schnell wird von dem Team der acht jungen Frauen, die hier ehrenamtlich arbeiten mit Hilfe der Materialien aus dem Truck der Medi Space, der Women Space und der Kids Space aufgebaut. Der Medi Space ist ein kleiner Raum im Truck, in dem eine Ärztin und eine Sanitäterin aus dem Team Konsultationen und Behandlungen für Frauen und Kinder anbieten. Es gibt eine Liege, Aufklärungsmaterial über den weiblichen Körper, Medikamente und Tee.

Die Möglichkeiten der Versorgung sind begrenzt erklärt uns die Ärztin. Manchmal ist es gut, wenigstens einen Tee mitgeben zu können. ROSA ist an zwei Tagen die Woche in Ritsona, an den anderen Tagen fahren sie vor die Camps Thiva und Malakasa. Draußen am Truck hängt eine Übersicht auf der steht, welche Organisationen an den Tagen medizinische Versorgung anbieten an denen ROSA nicht vor Ort ist. Die Organisationen tauschen sich in einem wöchentlichen Online-Meeting über die medizinische Situation aus, vermitteln und fahren medizinische Notfälle zu Kliniken. Es hängt auch eine Liste aus auf der sich die Frauen für den heutigen Arztbesuch eintragen können. Vor dem Truck gibt es Sitzmöglichkeiten für die Wartenden, ebenso eine Nähmaschine mit Stoffen und Garn. Sie ist den ganzen Tag von unterschiedlichen Frauen in Betrieb. Während der Women Space in einem schnell aufgebauten Zelt noch mit Decken und Kissen gemütlich eingerichtet wird, ist im Kids Space schon einiges los. Hier wird direkt mit dem Singkreis gestartet und es scheint hier Normalität, dass zwischen Stacheldrahtzäunen und Mauern Head-Shoulders-Knees-and-Toes gesungen und dazu getanzt wird.

Danach geht es an die Tische, heute wird geknetet. Meine Kollegin Ruba mischt sich als arabische Übersetzerin unter die Frauen, ich mache mich im Kids Space nützlich – knete, tröste, fange Kinder wieder ein, die in den Women Space laufen. Heute sollen die Frauen mal Zeit für sich haben. Während ich die Kinder auf dem Arm habe, fallen mir immer wieder die vollen Windeln oder nassen Hosen auf. Die meisten Kinder laufen nicht weg und sind glücklich im Kids Space. Es wird immer geschaut, dass das Angebot für die Frauen nicht mit dem für die Kinder konkurriert und deshalb wird dort heute auch modelliert. Mit an der Luft trocknender bunter Knetmasse. Die meisten Frauen häkeln mit zur Verfügung gestellter Wolle und Häkelnadeln. Dazu gibt es Tee und Musik. Ich wechsel in den Women Space und unterhalte mich mit einer jungen Frau, die gut Englisch spricht. Sie kommt aus dem Iran und möchte mit ihrer Partnerin zusammenleben. Beide sind gemeinsam geflohen und seit zwei Monaten im Camp. Sie hoffen, dass sie bald einen positiven Asylbescheid bekommen und wirken optimistisch. Anders als Mara, die ich noch von der Lebensmittelausgabe gestern kenne und hier mit ihren drei Kindern wiedertreffe. Sie lebt seit fünf Jahren im Camp, zwei ihrer Kinder wurden hier geboren. Das erfahre ich, weil eine Frau gut Deutsch spricht und übersetzt. Sie hat mit ihren beiden kleinen Kindern bereits in Deutschland gelebt, dort die Wartezeit auf den Asylbescheid mit Sprachkursen genutzt. Dann ihre Rückführung ins Erstaufnahmeland. Dublin Regel, die besagt, dass das Land für den Asyl-Antrag zuständig ist, in dem die geflüchtete Person zuerst europäischen Boden betreten hat. Für die Frau und ihre kleinen Kinder bedeutet das zurück auf null, griechisches Erstaufnahmelager. Sie wirkt sehr müde. Draußen vor dem Zelt treffe ich die Ärztin bei einer kurzen Pause. Sie beendet gerade ein Telefonat, hat eine befreundete Kinderärztin um Rat gebeten. Sie sei Gynäkologin, aber heute würden fast nur Kinder gebracht. Eins mit Verdacht auf Hirnhautentzündung. Sie geht wieder in den Truck, die Liste der heutigen Patientinnen ist noch lang. Dann wird es plötzlich voll und trubelig um den Truck, um 16 Uhr ist Windelausgabe. Vier Windeln pro Frau, ROSA ist zweimal pro Woche da. Der Andrang ist groß, die Stimmung kippt unter den Frauen. Vier Windeln sind zu wenig. ROSA kauft die Windeln ganz normal ein – mehr würde Budget und Kapazitäten im Truck sprengen. Wo sind die Windelkonzerne? Warum gibt es keine Windeln im Camp? Warum wird den Frauen das Leben hier noch schwerer gemacht durch so eine banale Sache? Gestern habe ich gelernt, dass ein junger Mann, der sich den ganzen Tag um Nahrung und einen Schlafplatz für die Nacht Gedanken machen muss, keinen Kopf für einen Sprachkurs hat. Als Mutter von drei Kindern weiß ich, dass eine Frau, die den halben Tag unterwegs ist für die Beschaffung von Windeln für Baby und Kleinkind, das sicherlich auch nicht hat.

Im Women und Kids Space sind mittlerweile neue Frauen und Kinder dazugekommen. Es wird nochmal getanzt und geschnittenes Obst verteilt, im Women Space gemeinsam die nächsten Aktivitäten überlegt. Ein Kosmetik-Nachmittag wäre toll. Am beliebtesten ist Häkeln, es werden bestimmte Woll-Farben gewünscht. So langsam wird es dunkel und die ersten machen sich auf zurück ins Camp. Bei ROSA wird langsam aufgeräumt. Während wir den ganzen Tag beschäftigt waren und sich die positive und entspannte Stimmung im Women und Kids Space auch auf mich übertragen hat, schlägt es bei mir mit Angehen der gefängnisartigen Flutlichter über den Mauern in Bedrückung um. Die Frauen und Kinder müssen nun wieder da rein. Eine Frau zeigt ein Foto von Schlangen im Camp, eine andere berichtet von den ganzen freilaufenden aggressiven Hunden und schickt uns nachher ein Video davon. Ihre Kinder sind 11 und 13 Jahre und machen wieder ins Bett, weil sie sich deshalb nicht raus zu den Toilettenwagen trauen. Andere lassen ihre Töchter aus Angst vor den mafiaartigen Banden nicht aus den Wohncontainern. Eine Frau aus dem Irak hat die gesamten Ersparnisse der Familie aufgebraucht, um ihrer 17-jährigen Tochter eine Weiterreise nach Deutschland zu ermöglichen. Ich spüre, dass der Mutter die Trennung schwerfällt, aber sie weiß sie lieber sicher in einer Wohngruppe in Deutschland als hier im Camp. Ich verabschiede mich auch von einem kleinen Jungen. Er hat nur Badeschuhe an, bald wird es auch in Athen Winter. Die Ärztin kommt aus dem Truck und wirkt ähnlich bedrückt. Sie ist erst den zweiten Tag hier, auf der Liste der Patientinnen sind am Ende des Tages immer noch viele Namen nicht durchgestrichen. Zum Glück gibt es die anderen Mädels von ROSA, die sich zum Check-Out Kreis aufstellen. Was lief heute richtig gut? Wie geht es dir? Ich muss an die Tausende hinter den Mauern denken, die wir heute nicht erreicht haben, aber auch an die, denen wir heute Kraft zum Durchhalten gegeben haben. ROSA fragt die Frauen in der Regel nicht nach dem Warum, der Herkunft oder wie es weitergeht. Aber manchmal kommt es doch zur Sprache und da wäre eine NGO mit rechtlichen Kenntnissen hilfreich. Wir können vermitteln, denn wir kennen die Organisation Fenix (https://www.fenixaid.org/), die wir am nächsten Tag treffen. Fenix bietet kostenlosen Rechtsbeistand für Menschen auf der Flucht in Lesbos und Athen. Die Liste mit Klienten ist immer gut gefüllt, trotzdem suchen sie im Moment nach Wegen auch die Menschen in den Camps noch besser zu erreichen und über ihre Rechte aufzuklären. Maaike, eine Niederländerin, die seit vier Jahren in Griechenland lebt, erklärt uns in den Athener Büroräumen ihren Holistic Approach mit so viel Überzeugung, dass wir uns am liebsten wünschen würden, dass jeder Geflüchtete die Möglichkeit bekommt, von ihrer Organisation vertreten zu werden. Ihr Ansatz ist, Geflüchteten Menschen die Werkzeuge und Möglichkeiten zu geben, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Das ist auch der Ansatz des Teams von Mazi – Housing Project (https://mazihousingproject.org/). Die Organisation bietet alleinreisenden Männern zwischen 18 und 30 Jahren Unterkünfte, Essensversorgung, Sprachkurse. Männer in dem Alter sind keine vulnerable Gruppe, deshalb werden sie von vielen Hilfs-Netzwerken und -Angeboten ausgeschlossen. Dadurch wird es schwierig für diese immer noch größte Gruppe von Menschen auf der Flucht aus dem Kreislauf der Obdach- oder Arbeitslosigkeit herauszukommen. Ich bin überzeugt davon, dass Mazi großartige Arbeit für diese Menschen leistet und eigentlich viel größer sein müsste. “Passt aber eigentlich nicht in unser Förderprofil”, meldet sich mein männlicher Vorstandskollege aus Deutschland. Bei unserer Auswahl sind wir geleitet von Bedürftigkeit und nicht von sozialen Gruppen. Die Bedürftigkeit erfährt eine zusätzliche Komponente der Not, wenn ein weiterer Aspekt hinzukommt z.B. minderjährige Alleinreisende, körperlich beeinträchtigte Menschen. Junge, gesunde Männer würden auch bei uns hinten runterfallen. Aber ich denke auch an unsere von Männern bedrohte vulnerable Gruppe hinter den Camp-Mauern. Eine Art sie zu schützen kann auch sein, den Männern eine Perspektive zu bieten. Und Ruba erinnert mich daran, dass sich hinter vielen Männern auf der Flucht auch oft eine Familie verbirgt, die noch im Herkunftsland Gefahr ausgesetzt ist und darauf wartet, unter weniger gefährlichen Umständen nachreisen zu können.

Wir sind von allen Organisationen, die wir getroffen haben, überwältigt von ihrem Engagement und überzeugt von der Notwendigkeit ihrer Existenz. Durch die vielen aktuellen Krisen und Kriege auf der Welt ist der Spot schon länger nicht mehr auf Griechenland und den EU-Außengrenzen. Wir bleiben mit unserer Stiftung da und versuchen mit unseren finanziellen Mitteln zu helfen, aber auch durch Kommunikation und Vernetzung die Helfer und Hilfsbedürftigen zu unterstützen.