• Flüchtlingsinitiative Bremen e.V.

    Recherchereise zur Situation abgeschobener Roma in Mazedonien

    Beginn: 2015

    Interview mit Marc Millies und Allegra Schneider, Recherche-Gruppe Mazedonien

    Was hat Sie dazu motiviert, nach Mazedonien zu fahren?

    Millies: Es ging uns vor allem darum, mehr über die Situation der
    dorthin abgeschobenen Roma zu erfahren. Wir kannten Berichte von
    Menschenrechtsorganisationen und von nach Deutschland zurückgekehrten
    Flüchtlingen. Nicht erst seit der Einstufung Mazedoniens als »sicherer
    Herkunftsstaat« lehnen deutsche Behörden die Asylanträge von
    mazedonischen Staatsangehörigen als »offensichtlich unbegründet« ab –
    und Flüchtlinge, die teils lange in Deutschland gelebt haben, werden in
    ein Land abgeschoben, das sie vor Jahren verlassen haben und wo sie
    buchstäblich vor dem Nichts stehen. Von den deutschen Gesetzgebern und
    Behörden wird das rigoros ausgeblendet. Unser bald erscheinender Report
    zeigt ein differenzierteres Bild. Es kann keine Rede sein von einem
    »sicheren Herkunftsstaat«, in dem weder politische Verfolgung noch
    sonstige menschenunwürdige Bestrafungen drohen. Im Gegenteil, die
    politische Lage in der Region ist so unsicher wie lange nicht.
    Schneider: Die Recherchen sind für unsere alltägliche Arbeit wichtig.
    Wir sind zum Beispiel für den Bremer Flüchtlingsrat, die Kampagne »Alle
    bleiben!« und das Roma Center tätig und dadurch mit Abschiebungen häufig
    konfrontiert. Die Reisegruppe besteht aus (Foto-)Journalistinnen und
    -journalisten, einer Ärztin und Rechtsanwältinnen und -anwälten, die
    dann zum Beispiel für Fälle, die sie in Deutschland, Belgien oder
    Frankreich vertreten, recherchieren. Jede Person hat also einen
    bestimmten Blickwinkel und einen etwas anderen Schwerpunkt. Unsere
    Recherchereisen sind ein kontinuierliches Projekt. Mit den Berichten
    machen wir Veranstaltungen, unterstützen Kampagnen, unterrichten die
    Politik und bringen Hintergrundinformationen in die Gerichtssäle oder in
    die Behörden.

    Was haben Sie konkret herausgefunden, wie sieht die Lage vor Ort aus?

    Schneider: Die Situation ist schlimmer als gedacht.
    Minderheitenangehörige, vor allem Roma, sind in Mazedonien vielfacher,
    struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Das betrifft Menschen, die vor
    kurzem abgeschoben wurden und nun vor dem besagten Nichts stehen. Aber
    auch Personen, die aus Mazedonien stammen oder im Zuge des Zerfalls
    Jugoslawiens oder während des Kosovokrieges dorthin geflohen sind, leben
    dort noch immer unter oft menschenunwürdigen Bedingungen.
    Millies: Es herrscht eine strukturelle Diskriminierung durch die
    Polizei. Allein die Häufigkeit von Polizeirazzien und -gewalt in den
    Roma-Vierteln Skopjes macht das deutlich. Diese Vorfälle werden zwar
    dokumentiert und zur Anzeige gebracht, zur Strafverfolgung kommt es aber
    in der Regel nicht. Bei den Behörden existiert ein tief sitzender
    Rassismus gegen Roma, der in seinem Umfang in Westeuropa kaum bekannt ist.
    Schneider: Der Rassismus gegen Roma zeigt sich auch in den Schulen. Dort
    werden Roma sowohl von Lehrkräften als auch von Mitschülern auf
    verschiedene Weise ausgegrenzt – falls sie nicht in separate Schulen
    gehen. Auch bei der Jobsuche wird die Diskriminierung deutlich. In
    Mazedonien gibt es viele Roma mit akademischem Abschluss, aber nur eine
    verschwindend geringe Zahl arbeitet in entsprechenden Jobs.

    In welcher weiteren Form werden Roma in Mazedonien diskriminiert?

    Millies: Bei der Aus- und Einreise von Roma, denen Asylantragstellung in
    Westeuropa unterstellt und vorgeworfen wird, ziehen die Behörden Pässe
    ein oder markieren sie. Das beeinflusst die soziale Situation der
    Betroffenen erheblich. Denn die Pässe müssen dann neu beantragt werden
    und solange kein gültiger Identitätsnachweis existiert, ist der Bezug
    von Sozialleistungen nicht möglich. Die meist einjährige Wartezeit für
    die neuen Dokumente bedeutet schlichtweg Armut. Uns war nicht bekannt,
    dass diese Sanktionen immer noch in einem solchen Umfang und gegen Roma
    eingesetzt werden, da es im Juni 2014 ein Gerichtsurteil gab, das diese
    Praxis beenden sollte. Doch die Behörden markieren in der täglichen
    Praxis weiterhin Pässe oder behalten sie ein. Mit dem Mazedonien-Bericht
    werden wir diesen Fakten Gehör verschaffen. Den von den Sanktionen
    Betroffenen wird meist nicht geglaubt. Vor Ort hörten wir jedoch von
    verschiedenen Leuten immer wieder die gleichen Geschichten.

    Auch Asylsuchende, die nach Europa gelangen wollen, halten sich in
    Mazedonien auf. Wie ist deren Situation?

    Schneider: In Skopjes Stadtteil Gazi Baba befindet sich auf einem Hügel
    die gleichnamige Aufnahmeeinrichtung. In der ehemaligen Kaserne werden
    derzeit etwa 300 Asylsuchende festgehalten. Sie sind über die südliche
    Grenze nach Mazedonien eingereist und kommen meist aus Syrien,
    Afghanistan oder dem Sudan. Die Asylsuchenden werden auf der Straße
    festgenommen und in einem äußerst unklaren Verfahren für mehrere Monate
    inhaftiert – mit der Begründung, sie könnten ihren Asylantrag auch in
    Gazi Baba stellen. Ein zynisches Entgegenkommen, wenn man so will.
    Millies: Die medizinischen und hygienischen Verhältnisse in Gazi Baba
    sind katastrophal. In der eigentlich auf 120 bis 150 Personen
    ausgerichteten Einrichtung gibt es nicht genügend Schlafmöglichkeiten
    und den Flüchtlingen ist es nicht gestattet, sie zu verlassen – »it’s
    like a jail«, sagte uns selbst ein dort tätiger Sicherheitsbeamter. Wie
    allen anderen zuvor wurde unserer Delegation der Zutritt verwehrt.
    Unsere Forschungen stützen sich deshalb auf Berichte von ehemals
    Inhaftierten und von Organisationen, die in Gazi Baba tätig sind, wie
    das Rote Kreuz.
    Schneider: In Mazedonien ist man überhaupt nicht vorbereitet auf die
    Asylsuchenden. Im politischen und medialen Diskurs sind sie kaum Thema.
    Allerdings war das Gefängnis etwa den Taxifahrern, die uns mitnahmen,
    ein Begriff. Einerseits gestanden sie ein, dass die Lage dort
    katastrophal ist. Doch gleichzeitig gingen sie auf Distanz. Wenn die
    meisten Asylsuchenden ohnehin weiterreisen wollen, warum sich dann um
    sie kümmern?, so das Credo. Diese Haltung scheint beispielhaft für die
    öffentliche Wahrnehmung der Asylsuchenden zu sein.

    Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Druck der EU-Staaten und
    vor allem Deutschlands?

    Millies: Schon jetzt kontrolliert der EU-Beitrittskandidat Mazedonien
    seine Grenzen zu den umliegenden Staaten. Der Druck aus Europa wird als
    dafür ausschlaggebend gesehen, das wurde in Gesprächen immer wieder
    betont. Dass es wie an der serbischen Grenze eine Zusammenarbeit mit der
    deutschen Bundespolizei gibt, wurde uns nicht berichtet. Es scheint aber
    eher eine Frage der Zeit zu sein, bis das passiert. Es gibt seit 2009
    Kooperationsabkommen zwischen der Grenzschutzagentur Frontex und der
    mazedonischen Regierung.

    Zurück zum Bericht – wie lief die Zusammenarbeit mit den Partnern vor
    Ort ab?

    Schneider: Sie sind bei den Recherchereisen ein wichtiger Bezugspunkt.
    Zum einen sind das Einzelpersonen und Familien, die in Mazedonien leben
    und aus Deutschland abgeschoben wurden. Zum anderen erhalten wir
    wichtige Informationen über NGOs wie das Helsinki Committee for Human
    Rights, über Rechtsanwälte, etwa von der Macedonian Lawyer Association,
    oder von Ambrela, einer Organisation von Roma, die eine Einrichtung für
    Kinder unterhält und viele Roma unterstützt und berät. Schon in
    Deutschland treffen wir Personen, die uns dann vor Ort Kontakte vermitteln.
    Millies: Wir versuchen, Einzelpersonen und Familien zu treffen, die uns
    von ihrer Situation und ihren Erfahrungen berichten – die
    Roma-Bevölkerung ist schließlich keine homogene Einheit. Die
    Kontaktaufnahme erfolgt auch häufig spontan. Oft schien es so, als
    befänden wir uns in einer deutschen Exklave: In den Roma-Vierteln werden
    wir sofort angesprochen, auf Deutsch, viele berichten vom Leben in
    München, Kaiserslautern oder Hannover. Gleichzeitig bemühen wir uns
    immer, auch bei staatlichen Institutionen zu recherchieren. In Skopje
    waren das zum Beispiel die Deutsche Botschaft, staatliche
    Erstaufnahmeeinrichtungen oder auch der Flughafen.

    Welche Reaktionen auf den Bericht erwarten Sie?

    Schneider: Mit unserer Arbeit erweitern wir vor allem den hiesigen
    Diskurs. Beispielsweise erhalten alle Verwaltungsgerichte mit Bibliothek
    unsere Reports. Diese stehen damit Richterinnen und Richtern zur
    Verfügung, die über Fälle urteilen, die mit den entsprechenden Ländern
    zu tun haben. So arbeiten sie vielleicht nicht mehr nur mit
    Informationen aus dem Auswärtigen Amt. Viele Migrationsrechtler greifen
    auf unsere Berichte zurück – durchaus mit Erfolg. Die Resonanz auf
    unsere bisher erschienen Berichte zur Lage im Kosovo und in Serbien ist
    enorm und zeigt, dass sie vielfach genutzt werden. Wie die
    vorangegangenen wird der Mazedonien-Bericht auch von Roma in Deutschland
    verwendet, zum Beispiel für die Bleiberechtskampagne »Alle bleiben!«,
    oder auch zu Terminen in den Ausländerbehörden mitgenommen. Der Report
    verstaubt also nicht nur in Bibliotheksschubladen.“

    Das Interview führte Till Schmidt

    Stiftung :do förderte die Recherchereise nach Mazedonien wie auch zuvor die Reise in den Kosovo mit 1000 Euro.

    www.fluechtlingsinitiative-bremen.de

    www.alle-bleiben.info